Der 1943 in Olmütz in Tschechien geborene und seit 1968 in Deutschland lebende Künstler Victor Sanovec entdeckte 1993 Pflanzen als lebendiges Material für seine Kunstwerke. In den darauf folgenden Jahren erarbeitete er gemeinsam mit Barbara Fuchs das Konzept für des Projekt RHEINGARTEN, das seit 1996 mit der Neugestaltung eines brachliegenden Weinberges am Langenscheider Hundert bei Oberwesel eine erste Realisierung erfuhr. Eine Fläche mit Pflanzen – mit Wildtulpen, Ginster, Lavendel usw. – gegliedert, fügt sich in die Landschaft ein und ist dabei je nach Jahreszeit und Bepflanzungsstand einmal mehr und einmal weniger deutlich sichtbar. Diese Fläche, die sich somit in immer neuen Ansichten bietet, verändert auch die Sicht auf die mittelrheinische Landschaft überhaupt. Sie weist hin auf ihre Schönheit, ihre Geschichte, aber auch ihr Gefährdetsein. Mit diesem Kunstprojekt, dem weitere Flächengestaltungen folgen werden, bis ein immer größeres Netz weit über das Rheinland hinaus entsteht, wird die Landschaft auf besondere Weise ausgezeichnet.
Heute - hier – so der Titel der Ausstellung, die in Aquarellen, Siebdrucken und Objekten die Arbeit von Victor Sanovec vorstellt – zeichnet der Künstler keinen Hang, sondern ein Haus aus: Er hat vor die alte Synagoge in Boppard einen Lorbeerwall gepflanzt. Lorbeer vor einer Synagoge? Es drängt sich die Frage auf, wie das zusammengehören kann.
Es sind zur Zeit drei Pflanzen, die den Künstler Sanovec besonders interessieren: Der Wein, der für das Wohlleben steht, die Rose, die die Schönheit vertritt, und der Lorbeer, die Pflanze des Erfolges, mit der wir es hier zu tun haben.
Laurus nobilis – so der lateinische Name –, dieser immergrüne Baum ist eine Pflanze mit langer Tradition in der Kunstgeschichte: Als Ort der Pflege dieses Baumes nahm man den Parnaß an, wo der lorbeerbekränzte Apoll als Gott der Künste mit den neun Musen seinen Aufenthalt hatte. In der griechisch-römischen Antike wurde dem Lorbeer heilbringende und entsühnende Wirkung nachgesagt.
Als Siegeszeichen und Nobilitierungshinweis findet sich der Lorbeer bei allegorischen Darstellungen, auf den Häuptern hervorragender Menschen, besonders von Poeten, ganz in der Nachfolge Apolls, oder als florale Rahmung, z. B. als vergoldete Stuckeinfassung für Gemälde. Einst hatte der römische Senat Kaiser Augustus das Ehrenrecht verliehen, einen Lorbeerbusch rechts und links seiner Türe aufzustellen.
Victor Sanovec hat nun die Synagoge in Boppard mit Lorbeer umkränzt, wenn wir denn den hier vorhandenen Wall von 1 mal 7 Metern als Segment des traditionellen Kranzes verstehen wollen. Eingeräumt werden muß an dieser Stelle, daß es sich um den Kirschlorbeer bzw. die Lorbeerkirsche handelt, ein Tribut an unsere nordischen Breitengrade, denn dem Parnaß-verwöhnten Laurus nobilis würde es bei uns im Winter viel zu kalt werden.
Die Synagoge in Boppard wurde am 6. September 1867 mit einem großen, fröhlich Fest eingeweiht. Viele hatten mit Spenden zu ihrem Bau beigetragen. Die Thora-Rollen, also die fünf Bücher Moses, wurde in einer feierlichen Prozession von der Rheingasse, wo sich die jüdische Gemeinde bis zu diesem Zeitpunkt mit einem Zimmer begnügen mußte, in das neue Gotteshaus getragen, das der Rabbiner aus Koblenz mit einer Festrede und dem ersten Gottesdienst einweihte. – Am 10. und 12. November 1938 endete die Geschichte des jüdischen Gemeindelebens in Boppard: durch die SA wurde die Synagoge zuerst geplündert und dann zerstört. In Schutzhaft genommene Juden wurden gezwungen, sich an dieser Aktion zu beteiligen.
Wie ist an diese Ereignisse zu erinnern? Die Aktualität dieser Frage führt die Diskussion um das in Berlin geplante 'Denkmal für die ermordeten Juden Europas' des Architekten Peter Eisenman von Augen, ein Feld mit weit über 2000 Steinblöcken, das schon vorab die Gemüter erhitzt.
Victor Sanovec geht noch einen Schritt vor die Frage nach dem 'Wie des Erinnerns' zurück: Woran kann und will Kunst erinnern?
Da er nicht nur an den Tod, sondern auch das Leben der Juden in Deutschland erinnern will, wählt Victor Sanovec ein lebendiges Material: den Lorbeer. Der reichen jüdischen Kultur setzt der Künstler damit kein steinernes Denkmal an prominenter Stelle, sondern erinnert mit einem Pflanzenwall vor Ort an sie, ein Wall, der – entgegen seinem wehrhaften Namen – fragil und verletzbar ist, dem dafür aber z. B. ein charakteristischer Geruch eigen ist. Er ist den Jahreszeiten unterworfen – absolute Winterhärte gibt es auch bei der Lorbeerkirsche nicht – und vielen Begebenheiten, die heute noch nicht abzusehen sind: Sicher wird er von dem ein oder anderen Hund auserkoren werden, vielleicht reißt jemand ein paar Blätter ab, um sie in einem Buch zu trocknen. Victor Sanovec steht mit diesem Werk in der Tradition von Joseph Beuys, der 1982 bei der documenta VII in Kassel mit seinem Projekt '7000 Eichen' deutlich für die Ablösung der steinernen Monumente eingetreten ist: Für jeden Basaltblock, der von der Aufschüttung auf dem Friedrichsplatz entfernt wurde, sollte ein Baum gepflanzt werden, eine Aktion, die die gesamte Kasseler Bevölkerung mit einbezog. Ähnlich verhält es sich mit den Lorbeerpflanzen hier in Boppard: Zu einem dauerhaften Wall werden sie nur, wenn genügend Interesse an ihrer Pflege besteht, die ihren Fortbestand sichert. Vielleicht ist das Interesse auch über Boppard hinaus hinreichend groß, damit weitere Lorbeerpflanzungen an denjenigen Orten entstehen können, wo einst jüdisches Leben war. Auf diese Weise könnte Victor Sanovec seine Wunschvorstellung in die Tat umsetzen: durch ein paar bescheidene Pflanzen Menschen und Erinnerungen in einem lebendigen Netz zusammenzuführen als Bestandteil eines großen, verbindenden Kunstwerks.
Doris Schumacher, Mittelrhein-Museum Koblenz