Mit unseren Augen erfassen wir Formen, Proportionen, räumliche
Strukturen, Perspektiven, Helligkeit und Farben sowie Merkmale, die es uns gestatten,
Größen und Entfernungen zu schätzen. Das Auge vermittelt uns eine unerhörte Fülle von
kognitiven und ästhetischen Informationen, als Grundlage für das, was man erkennen,
wissen und beurteilen kann oder was den Sinn für das Schöne anspricht.
"Unerhört" ist wörtlich gemeint: Das Gehörte und das Gesehene ergänzen
einander. Was wir sehen, kann uns vor Gefahren warnen oder Gefühle und Stimmungen
auslösen.
Die Alterssichtigkeit ist für den Intellektuellen und für den Künstler besonders
lästig. Von diesem Problem waren auch Mönche betroffen, die ihre Klosterzellen zu
Keimzellen der Kultur gemacht hatten. Sie befaßten sich nicht nur mit Theologie und
Philosophie, sonder waren zum Beispiel auch Dichter, Naturwissenschaftler und Meister der
Buchmalerei. Als das aus dem 11. Jahrhundert stammende Buch "Schatz der Optik"
des arabischen Mathematikers, Astronoms und Arztes Ibn el Haitam - genannt Alhazen - um
1240 ins Lateinische übersetzt und in Klosterbibliotheken verfügbar wurde, schlug eine
Sternstunde der Optik. Alhazen beschrieb unter anderem in seiner Schrift die
vergrößernde Wirkung eines Glaskugelsegments, des späteren "Lesesteins", ohne
jedoch seine Erkenntnis wissenschaftlich zu erklären. Die Information des Arabers, die Schwierigkeiten
alterssichtiger Mönche und deren handwerkliche Fähigkeiten kamen zusammen. Damals wurde
wohl in einem Kloster der erste Lesestein aus Bergkristall geschliffen. Bald folgten
Einglas und Brille. Mit dieser Errungenschaft der Lesebrille wurde die produktive
Lebensphase des geistig oder künstlerisch tätigen Menschen um Jahrzehnte verlängert.
Der Dominikaner Giordano da Rivalto aus Pisa soll 1305 in einer Predigt gesagt
haben:" Es ist noch nicht 20 Jahre her, daß die Kunst der Verfertigung von
Augengläser erfunden wurde. Ich habe selbst denjenigen gesehen, der sie erfunden..."
So kommt es, daß die Erfindung der Brille um 1290 datiert wurde. Von der Entwicklung und
den technischen Problemen die zu lösen waren möchte ich hier nicht berichten. Vielmehr
möchte ich einige reizvolle kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte hervorheben.
Die mit der Renaissance beschleunigte geistige, wissenschaftliche und technische
Entwicklung läßt sich nicht alleine durch die freiere Entfaltung des Genies erklären,
sondern vielmehr auch durch die Tatsache, daß immer mehr Menschen an vielschichtigen
Entwicklungen aktiv mitwirken konnten. Dies hing mit der Schulbildung für immer breitere
Bevölkerungskreise, mit der Gründung der europäischen Universitäten ab 1119, mit der
Erfindung des Buchdruckes um 1450 und nicht zuletzt mit der immer besser gewordenen
Brillenversorgung zusammen. Denn erst die Sehkorrektur erlaubte es auch fehlsichtigen
Menschen zu lesen und zu schreiben oder subtile handwerkliche, technische und
künstlerische Arbeiten auszuüben und so ihre Fähigkeiten optimal einzusetzen. Die
Brille hat also einen oft übersehenen epochemachenden Beitrag zur Entwicklung der Kultur
geleistet.